Der Bundesgerichtshof (BGH) hat ein richtungsweisendes Urteil gefällt, das die Ansprüche auf eine erstmalige Errichtung des Gemeinschaftseigentums bei einem steckengebliebenem Bau klärt. Das Urteil betont die Wichtigkeit einer Einzelfallprüfung und setzt zugleich Grenzen für die Zumutbarkeit der Umsetzung solcher Ansprüche.
Was ist passiert?
Der BGH hat mit einem Urteil vom 20. Dezember 2024 (Az. V ZR 243/23) grundsätzliche Fragen zur erstmaligen Errichtung des Gemeinschaftseigentums bei einem sogenannten steckengebliebenen Bau geklärt. In diesem Fall ging es um eine Eigentumswohnanlage, deren Bau während der Abrissarbeiten an der Bestandsimmobilie eingestellt wurde. Das Gericht entschied über die Ansprüche eines Wohnungseigentümermitglieds gegen die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer (GdWE).
Hintergründe
Zum Zeitpunkt der Entstehung der GdWE im Jahr 2013 war das Grundstück mit einer Abbruchimmobilie bebaut. Gemäß der Teilungserklärung sollte ein aus elf Einheiten bestehendes Wohn- und Geschäftshaus errichtet werden. Zu diesem Zweck schlossen die Wohnungseigentümer jeweils Werkverträge mit einer GmbH als Generalbauunternehmerin. Bereits während der Abrissarbeiten kam das Vorhaben jedoch zum Stillstand.
Die übrigen Wohnungseigentümer – mit Ausnahme der Klägerin – machen gegen die Generalbauunternehmerin Ansprüche aus den Werkverträgen gerichtlich geltend. Die Klägerin hingegen forderte, dass die GdWE die Anlage fertigstellt. In einer Eigentümerversammlung vom 16. September 2021 wurden die von der Klägerin gestellten Anträge abgelehnt. Diese beinhalteten unter anderem die Beauftragung von Angeboten für Abriss- und Räumungsarbeiten sowie die Erstellung von Ausführungsplänen und die Erhebung einer Sonderumlage von 50.000 Euro.
Worüber wurde gestritten?
Im Mittelpunkt des Streits stand der Anspruch auf erstmalige Errichtung des Gemeinschaftseigentums. Die Klägerin forderte, dass die GdWE Maßnahmen zur Fertigstellung des Projekts ergreift. Die Mehrheit der Eigentümer sah sich jedoch finanziell und organisatorisch nicht in der Lage, diesen Forderungen nachzukommen, und bewertete die Umsetzung als unzumutbar.
Urteil des Gerichts
Das BGH-Urteil hob die vorinstanzliche Entscheidung teilweise auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung zurück. Grundsätzlich bestätigte der BGH, dass Wohnungseigentümer einen Anspruch auf die plangerechte Herstellung des Gemeinschaftseigentums haben. Dieser Anspruch kann jedoch durch den Grundsatz von Treu und Glauben eingeschränkt werden, wenn die Umsetzung unzumutbar ist.
Begründung des Urteils
Das Gericht hob vier zentrale Punkte hervor:
- Grundsätzlicher Anspruch: Jeder Wohnungseigentümer kann von der GdWE die erstmalige Errichtung des Gemeinschaftseigentums verlangen. Bei einem steckengebliebenen Bau entsteht dieser Anspruch jedoch erst, wenn mindestens ein Erwerber die Stellung eines werdenden Wohnungseigentümer erlangt hat.
- Keine analoge Anwendung von § 22 WEG: Die Regelung zur Wiederaufbaupflicht zerstörter Gebäude ist nicht auf steckengebliebene Bauten übertragbar. Der BGH betonte, dass die gesetzliche Grundlage hier keine analoge Anwendung vorsieht.
- Begrenzung durch Treu und Glauben: Der Anspruch kann entfallen, wenn seine Erfüllung den übrigen Wohnungseigentümern unzumutbar ist. Dabei spielen Faktoren wie Kosten, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und alternative Lösungen eine wesentliche Rolle.
- Aufgabe des Tatgerichts: Es ist Sache des zuständigen Gerichts, im Rahmen einer umfassenden Einzelfallabwägung über die Zumutbarkeit zu entscheiden. Diese Bewertung kann nicht allein der Eigentümergemeinschaft überlassen werden, da sie rechtliche Wertungen erfordert.
Bedeutung für die Zukunft
Das Urteil schafft Orientierung für Fälle steckengebliebener Bauprojekte. Der BGH hat bestätigt, dass ein grundsätzlicher Anspruch auf die erstmalige Errichtung des Gemeinschaftseigentums besteht. Gleichzeitig setzte das Gericht klare Grenzen: Der Anspruch kann entfallen, wenn die Umsetzung den übrigen Eigentümern unzumutbar ist. Was konkret als Unzumutbarkeit gilt, hat der BGH jedoch offengelassen.
Besonders wichtig ist die Unterscheidung zwischen der Wiederaufbaupflicht nach Zerstörung eines Gebäudes und der Fertigstellung eines steckengebliebenen Baus. Der BGH stellte fest, dass diese Fälle nicht gleichzusetzen sind. Während die Wiederaufbaupflicht durch den Gesetzgeber klar geregelt ist, erfordert der steckengebliebene Bau eine individuelle Abwägung. Damit betont das Urteil die Bedeutung einer differenzierten Einzelfallprüfung und zeigt, dass pauschale Regelungen hier nicht anwendbar sind.
Das Urteil verdeutlicht die Komplexität von Bauprojekten im Wohnungseigentumsrecht. Der BGH klärt eine offene Rechtsfrage, die der Gesetzgeber so nicht vorgesehen hat und wie Ansprüche auf erstmalige Errichtung des Gemeinschaftseigentums bei steckengebliebenem Bau zu handhaben sind. Es zeigt die Bedeutung klarer Absprachen innerhalb der GdWE und die Notwendigkeit professioneller Beratung. Gleichzeitig mahnt das Urteil, die Grenzen rechtlicher Ansprüche zu beachten und die Interessen aller Beteiligten sorgfältig abzuwägen.